Programmwerkstatt

Fr, 2. Dezember 2022 – 20:15 ics

die programmwerkstatt bietet raum um gemeinsam fragen nachzugehen wie, was hat programm mit werkstatt zu tun? und was mit improvisation? oder mit selbstorganisation? und lässt sich programm kollektivieren? oder gar de-programmieren? de-kolonialsieren? feministisch gestalten?

ein tag vor dem gescheiterten duo zwischen Ornette Coleman und Jacques Derrida (der einen text vorlesen wollte, während Ornette improvisierte, aber ausgebuht wurde) im La Vilette, 1997 hat zweiteren ersteren interviewt (The Other's Language: Jacques Derrida interviews Ornette Coleman, 23 June 1997). dabei haben sie herausgefunden, dass sie ihre jeweilige vorstellung von improvisation teilen, nämlich dass diese jenseits einer binären und metaphysischen (eurozentrischen) logik, nämlich der unterscheidung zwischen geschrieben und spontan, liegt. diese unterscheidung würde nämlich die freie improvisation nicht frei machen, sondern an die negation von komposition fesseln. das entscheidende der improvisation ist nämlich nach Derrida und Ornette nicht das erstmalige, spontane, sondern die wiederholung (!) (des ereignis), bzw. wie Derrida sagen würde, die de-kon-struktion (wiederholend glauben, kämpfen und zweifeln für die möglichkeit) des ereignis von freiheit (Free Jazz). und Ornette weiter: das sogenannte spontane, unerprobte ergebe noch keine freiheit, sondern einschränkung, un-freiheit. schreiben und ereignis, regeln und freie improvisation sind einander nicht entgegengesetzt, sondern gehen auseinander hervor, insofern nicht nur die komposition, sondern auch das ereignis die möglichkeit der wiederholung strukturell voraussetzt. dieser gedanke gefährdet oder besser gesagt, verkompliziert das konzept der improvisation: die wiederholung liegt schon in der improvisation. es gibt also eine wiederholung, die dem ereignis der ursprünglichen kreation zueigen ist. die de-kon-struktion bzw. freie improvisation setzt das offene, das kommende voraus, weil die musik, die es zu kreieren gilt, im kommen ist (The Shape of Jazz to Come).

in der kommenden programmwerkstatt möchten wir uns mit dem begriff IMPROVISATION beschäftigen. und ihn entlang ornette colemans begriff von «frei» prüfen. dazu können wir die von Roland Borgards anhand des interviews von Jacques Derrida mit Ornette Coleman (Dekonstruktion und Free Jazz, 1997) aufgestellten thesen zu hilfe nehmen (in: Improvisation und Invention: Momente, Modelle, Medien, 2014, Hrsg. Sandro Zanetti):

1. Mit der Unterscheidung von Jazz und Free Jazz bzw. von Improvisation und Freier Improvisation wiederholt sich zunächst einmal das konventionelle metaphysische Schema, das auch Komposition und Improvisation einander entgegensetzt. Der Free Jazz hingegen scheint auf alle Bindungen zu verzichten, alle Grenzen der Konvention zu ignorieren und alle musikalischen Vorgaben abzulehnen. Standards kann er demnach nicht entwickeln, in einem Real Book lässt er sich nicht versammeln. Er scheint der Stimme nahe und der Schrift fern. In dieser Perspektive sind der Free Jazz und die Freie Improvisation das wahre Gegenteil der Komposition.
2. Dem Free Jazz, der alles erlaubt und nichts verbietet, gehen in den Augen (und: Ohren) seiner Kritiker*innen die Kriterien dafür verloren, was gute Musik und was ein gute*r Musiker*in ist. In einer defensiven Lesart erscheint deshalb der Halt, den der Jazz an der Regel, der Schrift und der Konvention gewinnt, die Improvisation davor zu bewahren, willkürlich und anarchisch zu werden.
3. Doch diese Hierarchie lässt sich umkehren: Die Freiheit ist besser als der Gehorsam; und diese Freiheit führt die eigene ästhetische Tätigkeit aus dem Hintergrund heraus in die eigentliche Musik hinein. Die Implikationen sind deutlich: Free Jazz ist frei, unmittelbar, direkt, emotional; Jazz hingegen bleibt unfrei, vermittelt, indirekt und kühl. Aus dieser Perspektive löst der Free Jazz das Versprechen der Präsenz ein, das der Jazz nur gegeben hat. Wer also wirklich Musik machen und nicht nur Vorgeformtes ausführen will, wer wirkliche Musik machen und nicht nur atmosphärische Klangtapeten produzieren will, sollte nicht Jazz, sondern Free Jazz spielen.
4. Allerdings ist mit einer einfachen Umkehrung der Werte wieder wenig gewonnen. Sie bleibt dem binären Gegensatzschema verhaftet, auf dem auch die traditionelle Ästhetik der Komposition beruht. Die Vorstellung des Free Jazz als unmittelbarer Selbstausdruck verweist deshalb zurück auf die ästhetischen Konzeptionen des 18. und 19. Jahrhunderts mit ihren historisch rekonstruierbaren und systematisch dekonstruierbaren Vorstellungen des schöpferischen Genies, des künstlerischen Werkes und des autonomen Subjekts. Wer die Wertung zwischen Improvisation und Freier Improvisation nur umkehrt, bleibt also gleichfalls befangen in der alten Metaphysik.
5. Ein Ausweg ergibt sich, wenn selbst im Fall des Free Jazz die Vorschrift der Komposition nicht als Gegensatz zur Freiheit der Improvisation verstanden wird. Ornette Coleman folgt genau diesem Prinzip. Seine Musik mag für einige Ohren zwar so klingen, als spiele er, was ihm gerade durch den Kopf geht. Doch Coleman entgegenet im Interview mit Derrida: »Aber das stimmt nicht. […] Aussenstehende glauben, dies sei eine Form von aussergewöhnlicher Freiheit. Ich bin dagegen der Meinung, dass sie eine Einschränkung ist«

fr 2.12.2022
20:15
werkstatt für improvisierte musik
magnustrasse 5
zürich

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